In verschiedenen Publikationen und im Internet fällt immer wieder der Begriff “Fremdsprachen-Legasthenie” oder “Fremdsprachen-LRS”, der besondere Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben in den modernen Fremdsprachen ausdrücken soll. In Fortbildungen werde ich entsprechend auch immer gefragt, inwiefern sich diese Schwierigkeiten von Problemen in der Muttersprache unterscheiden. Meine Antwort: Im Endeffekt gar nicht!
Dass es eine spezifische Fremdsprachenlegasthenie gibt, wird mittlerweile in der Wissenschaft verneint. Dies kann man durch zwei Erklärungsansätze belegen: das Konstrukt der Sprachlerneignung und die tatsächlich auftretende Symptomatik. Letztere unterscheidet sich in den Fremdsprachen generell nicht grundlegend von den Problemen in der Muttersprache, sodass z.B. lautliche Schreibung, schwache Kompetenz bei der Graphem-Phonem-Zuordnung etc. hier genauso auftreten wie im Deutschen. Was viele dazu verleitet, hier spezifische Fremdsprachenprobleme zu sehen, ist in der Regel schlichtweg die abweichenden orthographischen Prinzipien der anderen Sprache, weil die Fehlerarten dort auf den ersten Blick einer anderen Systematik unterliegen. Auch schränkt hier natürlich das besonders im Anfangsunterricht nur basal ausgeprägte Vokabular der Kinder Ausdruck und Schreibkompetenz zusätzlich ein.
Der andere Erklärungsansatz für die Fragwürdigkeit eines Konstrukts “Fremdsprachen-Legasthenie” ist die sogenannte Sprachlerneignung. Darunter versteht man die Fähigkeiten und (auch unterrichtlichen) Faktoren, die allgemein beim Lernen einer Sprache eine Rolle spielen. In Experimenten und empirischen Studien konnte gezeigt werden, dass diese Fähigkeiten (zu denen z.B. auch Kernkompetenzen wie die für Legasthenie/LRS wichtige phonologische Bewusstheit gehört) sich dann positiv auf das Lernen einer Fremdsprache auswirken, wenn sie in der Muttersprache bereits gut ausgebildet sind. Im Umkehrschluss bedeutet dies: Sind gewisse sprachliche Kompetenzen in der Muttersprache nicht vorhanden (wie z.B. bei Lese-Rechtschreibschwierigkeiten), kann dies auch negative Auswirkungen auf das Lernen einer Fremdsprache haben. Dies bedeutet aber, dass die Symptomatik in der Fremdsprache keineswegs fremdsprachenspezifisch ist, sondern bereits mit der mutter- bzw. allgemeinsprachlichen Kompetenz erklärt werden muss.
Nun können Sie berechtigterweise fragen, warum denn manche Kinder entweder in der Fremdsprache außerordentlich große Rechtschreib- oder Leseprobleme haben und in der Muttersprache nicht oder umgekehrt. Dass kann in der Regel z.B. bei Englischschwierigkeiten maßgeblich auf die hohe Varianz an Graphem-Phonem-Abweichungen zurückgeführt werden. Auch können bei abweichenden Leistungen in Mutter- und Fremdsprache Kompensationsstrategien eine Rolle spielen, die die Kinder ab einem gewissen entwicklungspsychologischen Stand entwickeln. Lese-rechtschreibschwache Schülerinnen und Schüler wissen in der Regel um ihre Schwierigkeiten und versuchen diese mit der Zeit durch selbstentwickelte Strategien zu überdecken bzw. mit gewissen Strategien (z.B. Verwenden von nur einfachen Wörtern in freien Texten o.ä.) zu kompensieren. Daher fallen möglicherweise Schwierigkeiten, die die Kinder in vier Jahren Grundschule in ihrer Muttersprache hatten, in dem in der 5. Klasse einsetzenden Englisch-Schriftsprachunterricht nicht zu stark auf.
Auch ist möglich, dass Kinder in der Muttersprache Schwierigkeiten haben, in neu zu lernenden modernen Fremdsprachen aber nicht. Dies ist meist auf die unterrichtende Lehrkraft zurückzuführen: Wenn sie viel Wert auf die systematische Einführung von Vokabular und der Darstellung von verschiedenen Graphem-Phonem-Korrespondenzregeln legt, können die Fremdsprachenlerner hier von Beginn an ein relativ fehlerfreies orthographisches Wissen über die neue Sprache erwerben. Das bedeutet nicht, dass z.B. lautlich-deutsche Schreibweisen gar nicht auftreten, sie können aber deutlich reduziert und durch die entsprechend gute Heranführung einer Lehrkraft an die abweichenden Schreibungen entsprechend kompensiert werden. Auch eine entsprechend konträre Entwicklung ist möglich: Wenn Kinder mit schwachen sprachlichen Fähigkeiten einen sehr guten Schriftsprachunterricht in der Grundschule genossen haben und somit nur schwache Lese-Rechtschreibschwierigkeiten, dann aber nicht systematisch an abweichende Schreibungen in den Fremdsprachen herangeführt werden, können dort Probleme auftreten – ein Phänomen, was früher dann – aufgrund des mangelnden Abgleichs mit muttersprachlichen Fähigkeiten – oft als vermeintliche “Fremdsprachenlegasthenie” aufgefasst wurde.
Gesichert ist aber, dass sich muttersprachliche Fähigkeiten im Allgemeinen auf die Lernfähigkeit (Sprachlerneignung) von Fremdsprachen auswirken können. Was man aber bedenken sollte, ist, dass die Grundlage einer guten Förderung schwacher Schülerinnen und Schüler im frühen Fremdsprachunterricht die Kognitivierung abweichender Schreibungen darstellt. Davon dürften lernschwache wie auch gute Schülerinnen und Schüler gleichermaßen profitieren.
Für diesen Artikel verwendete Literatur
Mabbott, A. (1995): Arguing for Multiple Perspectives on the Issue of Learning Disabilities and Foreign Language Acquisition. In: Foreign Language Annals 28, 4, S. 488-494.
Sparks, R. L.; Patton, J.; Ganschow, L.; Humbach, N.; Javorsky, J. (2006): Native Language Predictors of Foreign Language Proficiency and Foreign Language Aptitude. In: Annals of Dyslexia 56, 1, S. 129-160.
Sparks, R.; Artzer, M.; Ganschow, L.; Siebenhar, D.; Plageman, M.; Patton, J. (1998): Differences in native-language skills, foreign-language aptitude, and foreign-language grades among high-, average-, and low-proficiency foreign-language learners: Two studies. In: Language Learning, 15, S. 181-216.
Suchodoletz, W. v. (2007): Lese-Rechtschreibstörung (LRS) im Sprachenvergleich und im Fremdsprachenunterricht. In: Sprache · Stimme · Gehör, 31, S. 1-6.
2 Kommentare
Lieber Herr Gerlach,
ich bin aus Zufall auf diesen Blog gestoßen und finde es großartig, dass das Thema Legasthenie inzwischen so fachkundig diskutiert werden kann. Ich bin während meiner Schulzeit und besonders in der Weiterführenden Schule selbst immer wieder auf Unwissen und Unfähigkeit gestoßen. Festgestellt wurde Legasthenie bei mir als ich nach der vierten Klasse eine Hauptschulempfehlung bekam, die sich damit begründete, dass ich noch zu “verträumt und verspielt” sei um dem Stoff einer Realschule zu folgen. Nichts desto trotz machte ich 6 Jahre später meine Mittlere Reife und schloß unter den Besten meiner Klasse ab. Ich habe weder Förderung noch Verständnis von Schulseite erfahren und mich erst sieben Jahre später zur Weiterbildung entschlossen. Im Rahmen einer Ausbildung als Fremdsprachenkorrespondentin machte ich meine Fachhochschulreife.
Mein nachfolgendes Halbjähriges Praktikum machte ich bei einem großen Schulbuch Verlag. Zwar hatte ich nicht direkt was mit den Büchern bzw. deren Inhalten zu tun, war aber auf mehreren großen Messen wie z. B. Didacta und war erstaunt wie anerkannt das Thema Legasthenie war und gleichzeitig wie unbedeutend es schien.
Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass es mir am leichtesten fällt mich auf einen Text zu konzentrieren, wenn mir die Seite eines Schulbuches auch noch Platz zum selber denken lässt.
Allerdings habe ich, wahrscheinlich verständlicherweise, ein Problem mit Begriffen wie “Leistungsschwach und Lernschwäche”, die mich öfters in die Situation gebracht haben zu beantworten warum ich was mit Fremdsprachen mache wenn ich doch durch meine „Schwäche“ Probleme mit Sprachen hätte.
Ich habe mich viel mit Legasthenie beschäftigt, meistens um zu verstehen warum ich Sachen so und nicht anders leichter lerne oder was in meinem Kopf anders passiert und für mich zu dem Schluß gekommen, das der „nicht-legasthene“ Weg nicht besser ist sondern nur anders. Schwäche verbinde ich eher mit dem Unvermögen etwas zu tun, was ich bei mir nicht feststellen konnte. Im Gegenteil, rückblickend war ich ziemlich fix mit Kompensationen. Ich musste zum Beispiel einen Kontext viel schneller ziehen können als meine Mitschüler, weil ich viel länger gebraucht habe um die Texte zu lesen.
Als ich in der fünften Klasse Fremdsprachenunterricht bekam, lag neben mir auf dem Nachttisch ein Wörterbuch und ich stöberte nach Vokabeln die ich im Unterricht gelernt hatte oder die ich in Musiktexten gehört habe. Sprache hatte schon immer für mich eine enorme Faszination, aber nie etwas das ich mit einer Unzulänglichkeit von mir bezeichnen würde. Sprache folgt klaren Strukturen und Regeln und ist doch gleichzeitig extrem wandlungsfähig und abwechslungsreich.
Inzwischen habe ich in England meinen Bachelor in Management gemacht und weiß, dass eine „Lese- und Rechtschreibschwäche“ nicht heißt ich lerne schlechter als andere, ich gehe es nur anders an. Deswgen finde ich es auch so wichtig und wohltuend dieses Thema weiter in die Entwicklung von Bildungsmethoden einzubringen.
Ich freue mich auf weitere hochinteressante Artikel auf Ihrem Blog, die mir helfen meinen Kopf zu verstehen.
Viele Grüße
Sophie
Liebe Sophie,
vielen Dank, dass Sie Ihre Erfahrungen mit Ihrer LRS hier geschildert haben. Umso mehr freut mich, dass Sie trotz der Schwierigkeiten und sicherlich mancher Probleme (trotz der Kompensationen) Ihren Weg gefunden und nun sowohl beruflich als auch privat (das lese ich aus Ihrer positiven Schreibe) erfolgreich und glücklich sind.
Über weitere Eindrücke in naher Zukunft würde ich mich sehr freuen. Sie können so vielleicht auch andere Menschen, die Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben haben, inspirieren und Mut machen!
Weiterhin alles Gute auf Ihrem weiteren Weg!
Herzliche Grüße
David Gerlach
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[...] Unser Kollege David Gerlach hat sich zu diesem Thema auch interessante Gedanken gemacht. Wenn Sie si… Teilen Sie dies mit:FacebookTwitterE-MailDruckenGefällt mir:LikeSei der Erste, dem dieser post gefällt. [...]
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[...] Kollege Lars-Michael Lehmann hat einen Follow-Up-Artikel zu meinem Beitrag zur Fremdsprachenlegasthenie geschrieben aus seiner persönlichen Sicht als Betroffener und aus seinen Erfahrungen im [...]
[...] als “normale” Förderung in der Muttersprache. Ich habe schon an verschiedenen Stellen dargelegt, dass die ursächlichen Schwierigkeiten (z.B. phonologische Bewusstheit, schnelles Benennen etc.) [...]