Experten sind sich weitgehend darüber einig, dass eine Vielzahl der lese-rechtschreib-schwachen Menschen oft überdurchschnittlich hohe Kompetenzen im Bereich Rechnen oder auch Logik zeigen. Wenn es dann um die Wahl der zweiten Fremdsprache (oft nach Englisch) geht und zwischen Französisch, Latein oder Spanisch entschieden werden muss, wird oft – leider über den Kopf des Kindes hinaus – für Latein optiert. Die Gründe: Latein wird nicht gesprochen, sondern eher logisch anhand von Texten und den verschiedensten Konjugationen und Deklinationen analysiert.
Die Crux mit den Endungen
Dass lese-rechtschreib-schwache Kinder dadurch aber einen Vorteil beim Lernen von Latein haben, ist ein gefährlicher Trugschluss. Zwar kann (bzw. muss) vieles in lateinischen Texten durch Logik erschlossen werden, allerdings entscheiden innerhalb eines Satzes oft bereits kleinste Veränderungen an Wortendungen oder falsch gelesene Wortabschnitte über die Bedeutung eines ganzen Satzes. Darüber hinaus ist für diese Entschlüsselung der Zusammenhänge der einzelnen Satzbausteine ein hohes Maß an Aufmerksamkeit notwendig – ein Bereich, in dem viele LRS-Kinder oft Schwächen zeigen.
Probleme auf semantischer Ebene
Auch erfordert Latein ein noch konsequenteres Vokabellernen als eine moderne Fremdsprache. Wo in Englisch oder Französisch im Unterricht kommunikativ Wortschatz angewendet, erarbeitet und zur Not unbekannte Wörter noch mithilfe von Hilfsbegriffen umschrieben werden können, kann dies in Latein gar nicht bewerkstelligt werden. Alle Vokabeln müssen gelernt werden. Dazu hat eine Vielzahl von Vokabeln je nach semantischem Zusammenhang eine unterschiedliche Bedeutung: So kann das Nomen lingua sowohl “Zunge” als auch “Sprache” heißen oder das Verb legere als “lesen” oder im übertragenen Sinne als “auflesen” (= aufsammeln) übersetzt werden – je nach dem, was der Sinnzusammenhang aus dem gesamten Text oder dem gerade zu übersetzenden Satz erfordert.
Ein Plädoyer für kommunikative, moderne Fremdsprachen
An dieser Stelle möchte ich gar nicht allgemein gegen Latein als Sprache wettern. Ich habe selbst das große Latinum und darf behaupten, dass alleine die Auseinandersetzung mit der lateinischen Grammatik meine Kompetenzen in Deutsch, Englisch und Französisch sowie mein Allgemeinwissen gestärkt haben. Dennoch möchte ich zu bedenken geben, dass legasthene/lese-rechtschreibschwache Kinder mit offensichtlichen Schwierigkeiten insbesondere bei der Differenzierung einzelner Wortbestandteile (Morpheme) nicht Latein als Fremdsprache wählen sollten – egal, wie gut ihre logischen Kompetenzen ausgeprägt sind. Ein solches Kind sollte stattdessen eine moderne Fremdsprache wählen dürfen, an der es (vielleicht auch aufgrund von Urlaubserfahrungen oder landeskundlicher Interessen) Spaß empfindet. Dies wäre eine wichtige Grundmotivation. Logisches Differenzieren einzelner Morpheme in einer Sprache, die nicht mehr gesprochen wird, erscheint wenig motivierend.
Stattdessen kann in einem kommunikativ angelegten Französisch-/Spanisch-/Chinesisch-Unterricht viel kompensiert werden: Wenn eine Endung beim Sprechen mal nicht stimmt, wird eine Schülerin/ein Schüler trotzdem verstanden und somit nicht frustriert.
Eine Einschränkung möchte ich dennoch präsentieren: Sollte ein gemäßigt lese-rechtschreibschwaches Kind in der ersten Fremdsprache bereits wenig kommunikativ (d.h. zurückhaltend) agieren, sollte – in Absprache mit den Fachlehrkräften – auch Latein in Betracht gezogen werden. Hier kann dann durch Fleiß eventuell entsprechend kompensiert werden. Eine ausführliche Beratung sowie vielleicht einzelne “Probestunden” in einer der neu zu erlernenden modernen Fremdsprache sowie Latein wäre dann die beste Möglichkeit, um hier eine Wahl zu treffen.
In diesem Artikel verwandte Fachliteratur
Häfele, Hemma/Häfele, Hartmut (2009): Bessere Schulerfolge für legasthene und lernschwache Schülerinnen durch Förderung der Sprachfertigkeiten. Norderstedt: Books on Demand.
Sellin, Katrin (2004): Wenn Kinder mit Legasthenie Fremdsprachen lernen. München: Ernst Reinhardt.
7 Kommentare
Da spielt auch sicher die Sache der Ähnlichkeitshemmung eine sehr große Rolle und darauf sollte man bei legasthenen Menschen sehr schauen.
Hi Mirko,
ja, da stimme ich dir zu. Das trifft oft insbesondere auf die Fremdsprachen zu, da viele Lehrbücher ganz bewusst ähnliche Strukturen (“pattern drill”) trainieren.
Für alle, die sich zum Phänomen der Ähnlichkeitshemmung informieren möchten, hier zwei Links:
http://de.wikipedia.org/wiki/Ranschburg-Ph%C3%A4nomen
http://www.gedaechtnistraining.biz/Lerntipps/Ranschburg.htm
Viele Grüße
David Gerlach
Zur Ähnlichkeitshemmung habe ich eben auch noch einen Beitrag veröffentlicht. Zu lesen hier: http://www.unterrichtsmaterialien24.de/blog/die-aehnlichkeitshemmung.php
Viele Grüße
Mirko Mieland
Volle Zustimmung! Die Ähnlichkeitshemmung nach Ranschurg, liegt an der dominanz der rechten Gehrinhelfe und der “offenen Wahrnehmung”. Das würde hier als hypthese in den Raum stellen wollen. Schöne Grüße an meine Kollegen! Lars-Michael Lehmann
Dieser Lateinkiste kann ich nur zustimmen. Wenn dann noch eine ADS-Störung vorliegt, ist es ganz aus. Meinen Schülern unterlaufen ständig ‘Fehler’ aufgrund nicht gelesener Endungen. Dann noch die Mehrdeutigkeit der Endungen, dann ist es ganz aus. Ich arbeite viel mit Farben und lasse den Wortschatz mit dem simultanen Schnalzen eines Tennisballes skandieren, das hilft enorm, auch in Englisch.
Hallo,
ich habe Ihren Kommentar erleichtert gelesen, da mein Sohn sich mit seiner Rechtschreibstörung für Französich sls 2. Fremdsprache entschieden hat. Die Deutschlehrerin berichtete mir, dass er bei dem Grammatikunterricht vollkommen abgeschaltet hat, weil ihn dieser nonotone Stoff nicht interessierte und er seine Schwierigkeiten hatte, dies aufzunehmen. InEnglich macht er beim Unterricht mit und hat keine Scheu vor dem Sprechen.
Ich hoffe, die Entscheidung für Französisch war richtig.
Hallo, könnten Sie mir nähers erklären, wie Sie den Lernstoff /Wortschatz mit den Farben und den Tischtennisbällen “erlernen” ? Wie lerne ich effektiv Vocabeln mit einem LRS Kind?
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[...] Legasthenie/LRS und Englisch als Fremdsprache ein wissenschaftlicher Blog von Dr. David Gerlach zu Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten (Legasthenie/LRS und Englisch als Fremdsprache 21.02.2014)Warum Latein NICHT die richtige Fremdsprache für Legastheniker ist ? hier [...]
[…] Besonders schwierig ist die Wahl der zweiten Fremdsprache für lese-/rechtschreibschwache Kinder. Einen sehr guten Artikel dazu können Sie hier lesen: Warum Latein NICHT die richtige Fremdsprache für Legastheniker ist […]