Eine Definition von Legasthenie und LRS

Definition LegasthenieSeit vielen, vielen Jahren gibt es national wie international Streit um die Definition von Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten. Wie Sie als Leser meines Blog wissen, komme ich eher aus einer pädagogisch-therapeutischen Sicht und halte daher eine Legasthenie-Definition, die sich auf die Diskrepanz zum Intelligenzquotienten gründet, für unangemessen. Gründe hierfür gibt es zuhauf, die (nicht nur) Renate Valtin in mehreren Artikeln dargelegt hat. Trotzdem ist Valtin zuletzt als harte Gegnerin des Legastheniebegriffs an sich ein Stück weit zurückgerudert. In 2006 bedauerte sie daher …

“dass wir Pädagogen uns von dem Begriff Legasthenie verabschiedet haben, weil wir mit unseren ‘banalen’ pädagogischen Anätzen … aus der öffentlichen Diskussion und den Internetseiten verschwunden sind”

und dass sie …

“wieder den Ausdruck Legasthenie im Sinne von Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten [verwendet], um auf die Zuständigkeit der Schule und der Lehrkräfte für diese Probleme hinzuweisen.” (Valtin 2006, S. 57)

Ich hatte an anderer Stelle bereits dargelegt, warum ich – ebenfalls aus pädagogischen und menschlichen Gründen – den Begriff der Lese-Rechtschreibstörung für unangemessen halte, da er nahelegt, dass Schülerinnen und Schüler mit diesen Schwierigkeiten ihr Leben lang gestraft sind. Für eine frühe Förderung, wie sie nötig ist, ist das sicherlich höchst kontraproduktiv.

Die Schwierigkeit der Abgrenzung

Was die Definition von Lese-Rechtschreib-Problemen erschwert, ist der teilweise fließende Übergang von massiven Schwierigkeiten zu isolierten Problemen im Lesebereich, funktionalem Analphabetismus oder Leseverstehen: Wenn man letztere Kompetenz mit in die Diskussion einbezieht und die Risikokinder aus den Pisa-Studien betrachtet, kommt man schnell auf 20% aller deutschen Schülerinnen und Schüler mit solchen Problemen. Die Lese-Rechtschreibschwäche wird oft mit ca. 14% beziffert und deckt sich damit mit der Zahl der erwachsenen funktionalen Analphabeten, Legastheniker nehmen ca. 4-6% ein.

Da die Grenzen in diesen unteren 20% jedoch so stark verschwommen sind, sollte generell eine recht offene Definition von LRS und Legasthenie angelegt werden. Die British Psychological Society hat beispielsweise 1999 folgende Definition hervorgebracht:

“Dyslexia is evident when accurate and fluent word reading and/or spelling develops very incompletely or with great difficulty. … This focuses on literacy learning at the “word level” and implies that the problem is severe and persistent despite appropriate learning opportunities. It provides the basis of a staged assessment through teaching.” (British Psychological Society 1999, zitiert nach Reason 2002, S. 188/189)

Auch die österreichischen Legasthenieforscher Klicpera et al. (2010) favorisieren in ihrem Standardwerk der Legasthenieforschung lediglich eine Unterscheidung der Schwere der Probleme. Diese Schwere kann mittels standardisierter Lese- und Rechtschreibtests diagnostiziert werden, sodass ein Kind, das einen Prozentrang (PR) von 5 und darunter in einem solchen Test erreicht, als Legastheniker eingestuft werden kann, Kinder mit einem Prozentrang im Bereich von 6-15 als lese-rechtschreibschwach. Dies scheint mir eine sehr sinnvolle Vorgehensweise zu sein.

Genetisch vs. erworben

Nun wird man argumentieren können, dass eine Lese-Rechtschreibschwäche auch durch äußere Umstände (wie psychische Faktoren, Krankheit, schlechter Schriftsprachunterricht etc.) erworben werden kann, während eine Legasthenie mutmaßlich durch eine genetische Komponente gravierender erscheinen mag. Ein genetischer Anteil kann möglicherweise allerdings auch bei einem Kind vorliegen, das in einen PR von 6-15 fällt, was man sonst als Lese-Rechtschreibschwäche sehen könnte. Auch kann ein Kind nach anfänglich guten Leistungen im Grundschul-Deutsch massiv abfallen (was auf äußere Umstände zurückzuführen wäre) und dann in einer standardisierten Testung schlechter als PR = 5 abschneiden.
Sie sehen: Eine klare Unterscheidung fällt schwer. Außerdem ist gerade in diesem Bereich noch viel Forschung vonnöten.

Für die Probandensuche meiner Doktorarbeit bin ich sogar bis zu einem PR von 20 gegangen, habe also die 20% der Schülerinnen und Schüler herausgesucht, die große Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben (in Deutsch) aufwiesen. Für die pädagogisch-therapeutische Praxis ist jedoch in meinen Augen eine Definition anhand der Schwere, wie sie Klicpera et al. vorgestellt haben, am sinnvollsten. Dies soll (und darf) jedoch nicht bedeuten, dass auch die Schülerinnen und Schüler mit einen PR von 16 und höher keinen erhöhten Förderbedarf aufweisen und nicht ebenfalls unterstützt werden sollten.

Im Beitrag verwendete Fachliteratur

British Psychological Society (Hrsg.) (1999): Dyslexia, literacy and psychological assessment. Leicester: British Psychological Society.

Klicpera, C.; Schabmann, A.; Gasteiger-Klicpera, B. (2010): Legasthenie – LRS – Modelle, Diagnose, Therapie und Förderung. München [u.a.]: Reinhardt.

Reason, R. (2002): „From Assessment to Intervention: The Educational Psychology Pers-pective“. In: Reid, Gavin / Wearmouth, Janice (Hrsg.): Dyslexia and literacy: Theory and practice. Chichester, West Sussex, UK; New York: J. Wiley & Sons , 187–200.

Valtin, R. (2006): „Der medizinische Ansatz der Legasthenie und seine Problematik“. In: Hofmann, B. / Sasse, A. (Hrsg.): Legasthenie. Lese-Rechtschreibstörungen oder Leseschreibschwierigkeiten? Theoretische Konzepte und praktische Erfahrungen mit Förderprogrammen Berlin: DGLS , 44–58.

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Ein Kommentar

  1. Juergen Ulmer
    Erstellt am 8. September 2013 um 17:53 | Permanent-Link

    Ich selbst 51 Jahre und bedauerlicherweise meine Tochter sind von LRS betroffen um so schöner zu sehen, dass sich etwas tut. Bei meiner Tochter wurde dies diagnostiziert bei mir gab es diese Verfahren noch nicht und wurde als nicht gerade als intelligent herabgestuft. Ich habe fast Tag und Nacht gepaukt um aufs Gymi zu kommen und habe dies auch geschaft. In Mathe und Physik gab es bei mir kaum Grund zum lernen.
    Nun kürze ich es ab ! Trotz alledem Studierte ich und legte erfolgreich mein Studium zum Dipl.-Betriebswirt und Dipl.-Informatiker ab im letzteren Studiengang, obwohl dieser als sehr anspruchsvoll noch heute gilt, war dieser Studiengang für mich mit sehr wenig lernaufwand zu bewältigen und gehörte in meinem Jahrgang unter den 10 % der erfolgreichsten absolventen dieses Studiengangs. Goße Konzerne erkannten diesen Potenzial und förderten mich in allen Belangen auch finanziell in denen ich später selbstverständlich auch jahrelang tätig gewesen bin.
    Soviel zu LRS und den Menschen die dadurch als unterbemittelt gelten sollen.
    Letzteres kann ich nicht erkennen und nur Personen die dies unterstellen haben sich mit dieser Materie nicht auseinander gesetzt oder haben große Angst, dass Menschen mit diesem “Nachteil” sie überragen könnten !

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